Im Bereich der psychosozialen Versorgung gehört der Fachkräftemangel mittlerweile zu einer der größten Herausforderungen. Organisationen und Fachkräfte sehen sich auf der einen Seite mit den Folgen des demografischen Wandels und mit gravierenden Veränderungen in der Arbeitswelt konfrontiert. Auf der anderen Seite bleiben die psychosozialen Unterstützungsbedarfe von Menschen in prekären Lebens- und Versorgungssituationen hoch. Zudem werden in diesem Kontext Deprofessionalisierungsentwicklungen befürchtet, die durch die Aufweichung von fachlichen Standards in der Ausbildung und Praxis entstehen, um schnellstmöglich den Fachkräftemangel zu kompensieren.
Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, bedarf es neuer Initiativen und Strategien, die die Attraktivität der psychosozialen Praxis erhöhen, dem fehlenden Nachwuchs an vielen Hochschulen und Ausbildungsinstitutionen entgegenwirken und die Arbeitszufriedenheit in sozialen Organisationen durch neue Organisations-, Führungs- und Personalentwicklungskonzepte fördern.
Die Online-Fachtagung am 06. Mi 2025 unter der Organisation des European Centre for Clinical Social Work e.V. zeigt Perspektiven zum Umgang mit dem Fachkraftmangel auf und trägt zur Diskussion bei. Die Fachtagung findet in Kooperation mit der Fachhochschule Campus Wien, dem Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V., der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit e.V., der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit, dem Schweizerischen Fachverband für gesundheitsbezogene Soziale Arbeit und der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e.V. statt.
Das Thema des Fachkräftemangels wird mithilfe von Keynotes und Vortragspanels diskutiert. Die Fachtagung richtet sich an Mitarbeitende aus verschiedenen psychosozialen Arbeitsfeldern, Studierende der (Klinischen) Sozialarbeit sowie an Wissenschaftler:innen aus den Bereichen der Sozial- und Gesundheitswissenschaften.
Keynotes
Keynote 1 „Psychosoziale Versorgung in Zeiten des Fachkräftemangels: Empirische Vergewisserung und Perspektiven“
Gunter Graßhoff (Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Stiftung Universität Hildesheim)
Der Fachkräftemangel hat das Feld der psychosozialen Versorgung voll erreicht. Einige Felder der Daseinsvorsorge stehen kurz vor dem Kollaps und eine Wende ist in den nächsten Jahren nicht in Sicht. Dennoch gibt es wirksame Strategien im Umgang mit dem Mangel auf unterschiedlichen Ebenen im System.
In dem Beitrag wird der Status Quo aufgezeigt und Lösungswege werden skizziert.
Keynote 2 „Dynamische Entwicklungen in Profession und Disziplin Sozialer Arbeit: Strategien österreichischer Hochschulen gegen den Fachkräftemangel“
Elisabeth Steiner (FH Campus Wien)
Keynote 3 Versorgungslücken und -probleme als Herausforderung in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit – Ergebnisse der DVSG-Befragung 2024
Lotte Preuss (Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V.)
Fachkräfte der Sozialen Arbeit aus Krankenhäusern, Rehabilitationskliniken, Beratungsstellen und weiteren Institutionen warnen eindringlich vor den Folgen von Versorgungslücken für Patient*innen und ihre An- und Zugehörigen aber auch für das Versorgungssystem selbst. Um diese Warnungen mit Daten zu untermauern, hat die Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. (DVSG) ihre zweijährliche Befragung 2024 dem Thema Versorgungslücken und -probleme gewidmet. Die Ergebnisse der Befragung zeigen auf, wo es Versorgungslücken gibt und wer davon mit welchen Folgen betroffen ist. Lotte Preuss, Referentin der DVSG, stellt die Ergebnisse der Befragung vor und lädt zur anschließenden Diskussion ein.
Panels
Panel 1: Fachlich strukturierte Onboarding Prozesse als Instrument zur Fachkräftegewinnung und Personalbindung
Moderation: Lisa Große (ECCSW)
Wirkmodelle als Element professioneller Arbeit in Organisation am Beispiel des Anker-Wirkmodells Suchtberatung (AWiSuB)
Rita Hansjürgens (Alice-Salomon-Hochschule Berlin)
Das AWiSuB als Instrument strukturierter Onboardingprozesse und zur Personalbindung
Stefanie Gellert-Beckmann (Suchthilfe Wuppertal gGmbH)
Die Personalsituation im Arbeitsfeld Suchthilfe ist analog zu anderen Bereichen der psychosozialen Versorgung vom gesamtgesellschaftlich konstatierten Problem des Fachkräftemangels betroffen. Es kommt zum Teil zum Einsatz von fachlich noch unerfahrenen Studienabsolvent:innen, deren Einarbeitung durch Training on the job erfolgen muss, ohne dass für diese Aufgabe ausreichende Personal- und Zeitressourcen zur Verfügung stehen. Zu den Folgen dieser mangelnden Begleitung und Orientierung zählen auf Seiten der Organisation negative Auswirkungen auf die Qualität der Leistungserbringung und ggf. die Adressat:innen der Leistungen durch fachlich problematische Interventionen mit Risiken für die Organisationsverantwortung. Auf Seiten der Mitarbeitenden kann es durch mögliche Überforderung und fehlende Selbstwirksamkeit zu Unzufriedenheit und schnellen Kündigungen kommen. Gefragt sind Strategien, die den begrenzten organisationalen Ressourcen Rechnung tragen und z. B. in strukturierten und effizienten Prozessen liegen, die Onboardingprozesse umfassen. Ziel ist eine Übersicht vermittelnde Landkarte über die Aufgaben und Leistungen des Angebots (der Einrichtung, des Dienstes etc.) für die neuen Mitarbeitenden durch einen Prozess, der es ihnen und den sie einarbeitenden Fachkräften resp. der Leitung gleichzeitig erlaubt, Schulungs- und Trainingserfordernisse systematisch zu eruieren und zu planen und die fachlichen Entwicklungsschritte wahrzunehmen.
Ein organisationspezifisches Wirkmodell oder übergreifendes Ankerwirkmodell lässt sich als fachliche Orientierung zur systematischen Einarbeitung mit Auswirkungen auf die Selbstwirksamkeit und Arbeitszufriedenheit nutzen, wenn es mit dem QM der Organisation verbunden wurde. Der erste Vortrag führt in die Logik und Gestaltung von Wirkmodellen ein und stellt exemplarisch für den Organisationstypus Suchtberatung das Ankerwirkmodell Suchtberatung vor. Eine prototypische Umsetzung am Beispiel des Ankerwirkmodells Suchtberatung wird im zweiten Teil des Beitrags exemplarisch skizziert.
Panel 2: Professionalität – die Schwierigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Moderation: Karsten Giertz (ECCSW)
Die Geister die ich rief? Multiprofessionalität als (De-) Professionalisierungsstrategie in Zeiten des Fachkräftemangels.
Matthias Laub (Hochschule Landshut)
Soziale Arbeit ist von einem Fachkräftemangel betroffen, der bekanntermaßen auf den demografischen Wandel und andere, in diesem Beitrag skizzierte Einflussfaktoren zurückgeht. Dieser Mangel scheint in der zunehmenden Einstellung von fachfremden Quereinsteiger:innen zu kulminieren. Einstellungen werden zunehmend vor dem Hintergrund persönlicher vorgenommen und die angebliche „Multiprofessionalität“ als etwas Gewinnbringendes dargestellt. Der Beitrag zeigt auf, dass sich diese Strategie jedoch als Krisentreiber erweisen könnt und in eine „managerielle Deprofessionalisierung“ (Schnurr 2005: 239f) mit erheblichen Attraktivitätsverlusten der Sozialen Arbeit führt.
Hierzu wird die Lage analysiert und eine theoriegeleitete Perspektiven eröffnet, wie diese Transformation aktiv gestaltet werden kann: Diversifizierung und Multiprofessionalisierung der Praxis hat unter Führung der Sozialen Arbeit durch aktive Auseinandersetzung über arbeitsteilige Zuständigkeiten, disziplinärem Wissen, Handlungskompetenzen und Professionsgrenzen. Dadurch kann nicht nur dem Fachkräftemangel begegnet, sondern Sozialarbeiter:innen entlastet, der Autonomieanspruch der Profession gestärkt und die gegenstandsbezogene Zuständigkeit statt „diffuser Allzuständigkeit“ (Dewe/Otto 2018: 1863) konturiert werden.
Konflikterfahrungen von Sozialarbeitenden im Spannungsfeld zwischen professionellen Ansprüchen und aktuellen Arbeitsbedingungen
Jessica Bühler (Alice-Salomon-Hochschule)
Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen, neben meinem Unbehagen bezüglich meines Berufseinstieges, die Konflikterfahrungen von Sozialarbeiter:innen, die sich täglich im Spannungsfeld zwischen professionellen Ansprüchen und aktuellen Arbeitsbedingungen bewegen. Mittels einer Konfliktanalyse werden folgende Forschungsfragen beantwortet: Welche Konflikterfahrungen machen Sozialarbeiter:innen im benannten Spannungsfeld? Welche Bearbeitungsweisen, Handlungsmöglichkeiten und Interpretationsangebote stehen zur Verfügung? Welche Möglichkeitsräume können genutzt und (wieder) erschlossen werden? Es lassen sich Beschränkungen der Professionalität in den prekär ausgestatteten Erbringungskontexten am Beispiel eines freien Trägers der Sozialpsychiatrie kartographieren. Durch das Porträtieren des Beispielträgers kann anhand eines gescheiterten Betriebsratsgründungsversuchs als Kampf um Mitbestimmung und einer darauffolgenden Kündigungswelle gezeigt werden, dass aktuelle Herausforderungen wie der Fachkräftemangel, hohe Fluktuation und verdichtete Arbeitsintensität durch soziale (generationenübergreifende) Selbstverständigung auf allen institutionellen Ebenen sondiert werden müssen, um mit Hilfe von zeitnahen Mitbestimmungsprozessen Abwärtsspiralen zu verhindern.
Panel 3: Digitalität als Lösungsstrategie gegen den Fachkraftmangel?!
Moderation: Marianne Hösl (ECCSW)
KI-Agenten in der psychosozialen Versorgung? Die quasisoziale Beziehung als Beitrag zur Diskussion
Gesa Linnemann, Julian Löhe, Beate Rottkemper (FH Münster, FB Sozialwesen)
In der Debatte um den Fachkräftemangel wird der Einsatz von KI zunehmend diskutiert. Hierunter fällt neben administrativen und begleitenden Tätigkeiten und Aufgaben auch der Einsatz von KI-Agenten, die menschenähnlich gestaltet sind und die KI-basierte Funktionen zur Verarbeitung und Produktion natürlicher Sprache aufweisen. International sind bereits vergleichbare Bots in der psychosozialen Versorgung im Einsatz (Prochaska et al., 2021; Durden et al., 2023). Ohne Kennzeichnung lässt sich in computervermittelten Zusammenhängen in der Regel nicht mehr zwischen KI und Mensch unterscheiden (Jones & Bergen, 2024). Bisherige Forschungsarbeiten zeigen, dass sich Unterschiede hinsichtlich der Zuschreibungen auf KI und Mensch (Linnemann & Jucks, 2016; Meng & Dai, 2021; Yin et al., 2024), aber auch Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Wahrnehmung und Wirkung auf Rezipient:innen beobachten lassen. Wir schlagen das Konzept der quasisozialen Beziehung (Linnemann, Löhe & Rottkemper, 2024) in Abgrenzung zur sozialen Beziehung und in Unterscheidung zur parasozialen Beziehung (Hoffner & Bond, 2022) vor und diskutieren die Konsequenzen für den Einsatz von KI-Agenten in der psychosozialen Versorgung.
Online-Beratung für Zielgruppen Klinischer Sozialarbeit – eine Lösung für den Fachkräftemangel?
Dietrun Lübeck (Evangelische Hochschule Berlin)
Psychosozialer Online-Beratung wird der Vorteil zugeschrieben, dass über sie auch Zielgruppen Sozialer Arbeit erreicht werden können, die in abgelegenen Gegenden oder unterversorgten Regionen leben. Gilt dies auch für Zielgruppen Klinischer Sozialarbeit? Welche konkreten Angebote gibt es für Menschen mit psychosozialen Problemen, schweren psychischen Erkrankungen und ihre An- und Zugehörigen? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Online-Beratung auch hier ein relevanter Baustein der Versorgung sein kann? In dem Beitrag wird ein Überblick über die aktuelle Versorgungslandschaft gegeben und dieser als Ausgangspunkt genommen, gemeinsam darüber zu diskutieren, inwieweit der Fachkräftemangel über Online-Angebote fachlich vertretbar kompensiert und die Versorgung optimiert werden kann – oder auch nicht.
Panel 4: Fachkraftmangel bei spezifischen Adressat:innengruppen
Moderation: Saskia Ehrhardt (ECSSW)
Fachkräftemangel im ländlichen Raum für Menschen mit psychischen Problemen – landkreisbezogene Recherchen, Erfahrungen und Schlussfolgerungen
Svenja Söhren, Alt Luise, Seiler Line & Dietrun Lübeck (Evangelische Hochschule Berlin)
In einem studentischen Lehr-Lern-Forschungsprojekt wurden sechs verschiedene Landkreise dünn besiedelter Regionen Nord- und Ostdeutschlands dahingehend untersucht, wie dort Menschen mit verschiedenen psychischen Problemen professionelle Unterstützung bekommen (Depressionen, Psychose, Substanzkonsum) und diese verglichen mit der psychosozialen Versorgungslandschaft in einer Großstadt (am Beispiel Berlin).
Die ersten Ergebnisse werden anhand von Postern kurz vorgestellt. Dabei wurden in den ausgewählten Landkreisen verschiedene Erfahrungen und Beobachtungen gesammelt, die Hinweise auf unterschiedliche Ausgangslagen und Umgangsweisen mit dem Fachkräftemangel im ländlichen Raum geben. Auf dieser Grundlage wird zur Diskussion eingeladen, über verschiedene Facetten des Fachkräftemangels je nach Versorgungsregion und Problemlagen der Zielgruppen zu diskutieren.
Fachkräftemangel im Spiegel der Pflegestatistik – Beschäftigungszahlen der Sozialen Arbeit sind rückläufig
Alfons Hollederer (Universität Kassel)
Zahlen der Pflegestatistik zeigen, dass die Anzahl der Fachkräfte der Sozialen Arbeit in Pflegeheimen im Jahr 2021 gesunken ist und der relative Anteil am Personalbestand nur noch bei 0,8 Prozent lag. In den ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten liegt diese Quote bei nur 0,3 Prozent. Der Sozialen Arbeit kommt traditionell die soziale Betreuung als Aufgabe in der Pflege zu. Die Pflegestatistik zeigt allerdings, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit vor allem in der ambulanten Pflege häufig nicht entsprechend eingesetzt werden, sondern zu einem großen Teil überwiegend pflegerische Tätigkeiten ausüben. Der Fachkräftemangel könnte diesen Trend der Deprofessionalisierung noch verstärken.